Analytische Übersicht
Wenn Sie diesen Text lesen, bedeutet dies, dass Sie an Ethometrics – dem Projekt von Pro Ethica – think tank en sciences morales zu ethischen Vergehen und Vernachlässigungen der wichtigsten schweizerischen Unternehmen – interessiert sind. Wir hoffen, dass dieser Text sämtliche Ihrer Fragen beantwortet. Auch wenn sich das Projekt ständig weiterentwickelt, finden sich hier doch die theoretischen Grundsätze, die methodologischen Entscheidungen und die Einzelheiten zur technischen Realisierung des Projekts. Für alle weiteren Informationen oder Hinweise zu Ethometrics oder zu diesem Dokument kontaktieren Sie uns bitte auf die Adresse ethometrics@proethica.ch.
1. Darstellung
1.1 Ziele
Ethometrics verfolgt die folgenden Ziele:
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Erfassung, kategorische Einordnung und Bewertung ethischer und juristischer Vergehen und Vernachlässigungen von Unternehmen mit Hauptsitz in der Schweiz, gestützt auf eine Datenbank von mehreren Dutzend Fällen. Die Daten werden Schweizer Bürgern, potentiellen Kunden oder Partnern der Unternehmen, spezialisierten NGOssowie der politischen Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt.
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Spezialisierte Organisationen und Einzelpersonen haben die Möglichkeit, über ein einfaches Formular die Datenbank zu erweitern.
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Die Unternehmen können die Vorwürfe, mit denen sie konfrontiert werden, zur Kenntnis nehmen, ihre Sichtweise zur Geltung bringen, sowie eventuell die passenden Schlüsse daraus ziehen.
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Eine permanente Arbeitsgruppe analysiert fortlaufend die Daten, integriert diese gegebenenfalls in die Datenbank und nimmt allfällige Änderungen vor.
1.2 Daten
Die Datenbank enthält Fakten und deren Auslegung über die Mehrzahl der grossen schweizerischen Unternehmen, die mit Vorwürfen im Bereich der Ethik konfrontiert waren oder sind.
1.2.1 Fakten
Die Fakten können in zwei Gruppen unterteilt werden:
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Informationen, welche die Unternehmen über sich selbst veröffentlichen (Organisation, Geschäftsleitung, Aktionariat, Umsatz, etc.)
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Informationen, die vermeintliche ethische Vergehen und Vernachlässigungen oder rechtliche Verstösse dieser Unternehmen betreffen
Zusammengestellt werden alle diese Informationen im Rahmen einer minutiösen Recherche in Pressemitteilungen der Unternehmen sowie in verschiedenen Medien:
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Artikel renommierter Zeitungen, die grundsätzlich selber investigativ arbeiten
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Reportagen von Fernsehsendern aus der Schweiz oder anderen europäischen Ländern
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Dossiers, die von NGOs zusammengestellt wurden, welche in den Bereichen Menschenrechte, Arbeiterrechte und Umweltschutz spezialisiert sind
Die Fakten in der Datenbank werden in üblicher Weise mit Quellenangaben versehen, was es dem Leser erlaubt, sie relativ einfach beispielsweise im Internet zurückzuverfolgen.
1.2.2 Auslegungen
Neben den genannten faktischen Informationen enthält unsere Datenbank auch Interpretationen derselben. Diese interpretativen Informationen sind das Ergebnis von kategorischer Einordnung und Bewertung durch unsere Mitarbeitenden. Es lassen sich unterscheiden:
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Rechtliche Verstösse von ethischen Verstössen
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Fälle, die anerkannterweise gegen den rechtlichen Rahmen der Schweiz verstossen, wie er in der Bundesverfassung, der Gesetzgebung und dem zwingenden internationalen Recht festgelegt ist, von solchen, die in der Schweiz nicht (unbedingt) als Rechtsverstösse betrachtet werden (wobei eine Analyse der moralischen Verantwortung des Unternehmens für jeden Fall vorgenommen wird).
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Typen relevanter Normen, welche die vorhergehende Unterscheidung gewährleisten
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Fälle, die als Vergehen zu betrachten sind, von solchen, die Vernachlässigungen darstellen
1.2.3 Bewertungen
In Ergänzung zu den faktischen und interpretativen Informationen umfasst Ethometrics evaluative Befunde, die das Ergebnis einer ethischen Bewertung darstellen. Insbesondere ermöglicht unser Modell annäherungsweise folgende Befunde:
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die Schwere (die Intensität) der ethischen Verfehlung
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das entsprechende Antwortverhalten (die Reaktivität) des verantwortlichen Unternehmens
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die zeitliche Entwicklung des Verhältnisses zwischen der Intensität der ethischen Verfehlung und der Reaktivität des verantwortlichen Unternehmens
2. Erklärung und Begründung
Um die Glaubwürdigkeit unseres Projektes zu gewährleisten, ist es wichtig einige implizite Voraussetzungen der bisher genannten Punkte zu klären. Dies soll der folgende Abschnitt leisten, wobei wir um der Leserlichkeit willen davon ausgehen, dass die vorgebrachten Vorwürfe fundiert sind. Der eilige Leser kann direkt zu den Abschnitten 3 und 4 übergehen, wo wir auf die Limiten von Ethometrics eingehen, sowie auf die vorgesehene Verwendung der Datenbank.
2.1 Zwei theoretische Voraussetzungen
Es ist eine anspruchsvolle Sache, ethische Vergehen und Vernachlässigungen zu bewerten. Um die Glaubwürdigkeit unseres Projekts möglichst hoch zu halten, verteidigen wir eine ethische Position, für welche die beiden folgenden Punkte zentral sind:
1. Unternehmen sind verantwortlich für ihre Handlungen.
2. Unternehmen haben moralische Verpflichtungen.
Zusammengenommen implizieren diese zwei Thesen, dass die Unternehmen eine moralische Verantwortung in einem normativen Sinn tragen. Demnach fallen gewisse moralisch erlaubte oder verbotene Handlungen manchmal in die Verantwortung von Unternehmen.
Zur Verteidigung von (1) stützen wir uns auf über drei Jahrzehnte der Forschung im Bereich Unternehmensethik (business ethics)1. Das üblicherweise vorgetragene Argument lautet so: Jedes Unternehmen sieht Prozeduren vor, die Bedingungen festlegen, unter denen eine Handlung dem Unternehmen an sich und nicht einem bestimmten Individuum zuzuschreiben ist. Damit ist gemeint, dass bestimmten Individuen eine Funktion zugewiesen wird (bspw. über ein Pflichtenheft oder unternehmensinterne Rechte und Pflichten) und dass die unmittelbaren Unternehmensziele spezifiziert werden. Folglich ist eine Handlung auch dann dem Unternehmen an sich zuzuschreiben, wenn sie von einem Angestellten vollzogen wird und letztendlich die Absichten der Geschäftsleitung umsetzt – unter der Voraussetzung, dass sie durch genaue Bedingungen der Zuschreibung bestimmt ist, die allen am Unternehmen Beteiligten bekannt sind und anerkannt werden2.
Bevor für (2) argumentiert werden kann, müssen zunächst zwei Arten von Verpflichtungen unterschieden werden, die für Unternehmen gelten: (i) Verpflichtungen (zumeist mit der Pflicht zur Profitmaximierung verbunden) gegenüber natürlichen oder juristischen Personen in ihrem Status als Aktionäre oder Eigentümer und (ii) Verpflichtungen gegenüber Personen (Angestellten und anderen) als Träger von moralisch relevanten Interessen (beispielsweise die Pflicht, Beeinträchtigungen dieser Interessen zu minimieren). Nur die Pflichten des Typs (ii) sind im eigentlichen Sinne moralischer Art; die Pflichten des Typs (i) stellen hingegen treuhänderische Pflichten dar.3
Unter dieser Voraussetzung lässt sich (2) verteidigen, indem gezeigt wird, dass sich diese These aus einer bestimmten Auffassung wirtschaftlicher Freiheit ergibt, die Unternehmen zugebilligt wird. Man kann sagen, dass die Freiheit von Unternehmen durch die Freiheit der Einzelnen begrenzt sein muss. Diese haben bestimmte grundlegende Interessen an ihrem Wohlergehen und sind deshalb durch moralische Verpflichtungen geschützt, die Vorrang haben vor treuhänderischen Verpflichtungen, die ein Unternehmen gegenüber seinen Aktionären und Eigentümern eingegangen ist mit dem vertraglichen Versprechen, deren Geld gut zu verwalten. Der Vorrang der moralischen Verpflichtungen ergibt sich aus dem fundamentalen Charakter der Interessen, die sie wahren – und diese Interessen sind insofern fundamental, als sie Bedingungen zum Ausüben der Freiheit darstellen, da sie an grundlegende Bedürfnisse oder an das dauerhafte Wohlergehen der Individuen gebunden sind. Daher ist es moralisch untersagt, diesen fundamentalen Interessen – soweit dies möglich ist – zu schaden.4
Diese Überlegungen verweisen auf den Unterschied zwischen dem normativen Bezugssystem von Ethometrics und dem normativen Bezugssystem dessen, was häufig mit « CSR » (Corporate Social Responsibility) bezeichnet wird. Wenn man damit einverstanden ist, dass soziale Verantwortung notwendigerweise mit deontischen normativen Zwängen einhergeht (die also verpflichtend sind), dann ist unser Bezugssystem einfach eine Untereinheit des üblichen CSR-Bezugssystems. Es kann aber auch dafür argumentiert werden, dass deontische normative Zwänge vom Konzept von CSR ausgeschlossen bleiben sollen – etwa indem man darauf verweist, dass die Unternehmen einen Teil derjenigen Normen und Werte wählen können müssen, denen sie sich unterstellen und an die sie sich halten möchten und die dazu gedacht sind, gegebenenfalls die soziale Verantwortung zur Geltung zu bringen. Dann ist unser Bezugsrahmen viel einschränkender für die Unternehmen: Ebenso wie individuelle Akteure sind sie Träger moralischer Verantwortung.5
Folglich besteht ein ethischer Verstoss nicht darin, selbst gewählte Werte und Normen nicht zu respektieren. Ein ethischer Verstoss besteht darin, den moralisch relevanten Interessen eines Individuums zu schaden.6
2.2 Methodologie und Funktionsweise der Bewertung
2.2.1 Juristische und ethische Verstösse
Als moralisch verantwortliche Akteure sind Unternehmen in einem zu bestimmenden Ausmass moralisch haftbar. Um dieses Ausmass zu bestimmen, ist es wichtig zunächst einmal zu unterscheiden, ob die Vorwürfe an das Unternehmen die Ethik oder das Recht betreffen. Unsere Kriterien für diese Unterscheidung sind namentlich die folgenden:
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Bestehen eines verfassungsmässigen Rechts im Staat, in dem der Verstoss erfolgte
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Bestehen einer internationalen Norm, die der Staat, in dem der Verstoss erfolgte, übernommen hatte
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Bestehen eines Gerichtsentscheides im Staat, in dem der Verstoss erfolgte
Soweit eine der drei Bedingungen erfüllt ist, betrachten wir den Fall als einen rechtlichen Verstoss. Im entgegengesetzen Fall – und sofern das Vergehen moralisch relevante Interessen betrifft – betrachten wir den Fall als einen ethischen Verstoss.
2.2.2 Vergehen und Vernachlässigungen
Um den Unternehmen, denen vorgehalten wird, gegen ethische oder rechtliche Normen verstossen zu haben, gerecht zu werden, nehmen wir eine weitere typologische Unterscheidung vor. Es kann von Vergehen im strengen Sinne gesprochen werden, wo Gründe zur Annahme bestehen, dass moralisch relevante individuelle Interessen absichtlich geschädigt wurden. Ein solcher Fall betrifft die Verantwortung des gesamten Unternehmens in dem Sinne, dass die schädigende Handlung einer Absicht der Gesamtkörperschaft gemäss vollzogen wurde, dass also die Personen, welche gehandelt haben, dies im Rahmen ihrer Funktion und in Übereinstimmung mit einer Entscheidung der Geschäftsleitung getan haben. Solche Fälle sind von Fällen zu unterscheiden, in denen der ethische Verstoss nicht in diesem Sinne absichtlich erfolgt, und in denen wir von ethischen Vernachlässigungen sprechen werden. Dies trifft typischerweise zu, wenn:
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die Entscheidungsprozedur von einem Mitglied des Unternehmens nicht respektiert worden ist
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die Prozedur zwar respektiert wurde, aber die Mitglieder der Geschäftsleitung nicht vorhergesehen haben, dass mit der Ausführung des Entscheides ein moralischer Schaden in Kauf genommen würde, obwohl sie dies zum Zeitpunkt der Entscheidung hätten vorhersehen können,
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die Prozedur respektiert wurde, die Geschäftsleitungsmitglieder die ethische Tragweite ihrer Entscheidung einsahen, diese Einsicht sie aber dennoch nicht dazu veranlasste, sich anders zu entscheiden. Der Unterscheidung zwischen Vergehen und Vernachlässigung wird Rechnung getragen, damit die Schwere des moralischen Schadens bewertet werden kann.
2.2.3 Schwere des moralischen Schadens
Um die Schwere des von den Unternehmen verursachten Schadens annähernd und in nützlicher Weise zu beschreiben, kategorisieren wir die Vergehen und Vernachlässigungen entsprechend den folgenden Parametern7:
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Zahl der menschlichen Opfer auf einer Skala von 0 bis 3, wobei 3 mehreren hundert Personen entspricht
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Zahl der nicht-menschlichen Opfer auf einer Skala von 0 bis 3, wobei 3 auf einen ökologischen Schaden auf einer Fläche von mehreren hundert Hektaren verweist
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Ausmass der Wichtigkeit des moralisch relevanten Interesses der Opfer, wobei 1 einem fundamentalen Interesse und 0 einem nicht fundamentalen Interesse entspricht
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Art des zeitlichen Auftretens des Vergehens/der Vernachlässigung, wobei 1 einem sich fortsetzenden oder sich wiederholenden und 0 einem punktuellen Auftreten entspricht
Dabei verweist der Ausdruck fundamentale Interessen auf die Bedürfnisse von Individuen, respektive die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit die Individuen zu überleben fähig sind und ein längerfristig stabiles Wohlergehen erreichen können. Zu dieser Kategorie wird zumeist der Schutz vor physischem und psychischem Leiden gerechnet, das beispielsweise durch erzwungene Arbeit, Belastung durch giftige Substanzen oder jegliche Verletzung der Artikel 3-5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verursacht werden kann.8 Der Kategorienicht fundamentaler Interessen wird der Schutz vor ethischen Verstössen zugerechnet, die im Zusammenhang mit anderen Artikeln der Menschenrechtserklärung stehen oder reversible Umweltschäden betreffen.
Obwohl diese Parameter nicht erlauben, die Beziehung zwischen jedem einzelnen Kriterium und dem Begriff von „Schwere“, den wir gebrauchen, darzustellen, sind sie im folgenden Sinne linear: Der Wertzuwachs eines der Parameter impliziert den Wertzuwachs der Schwere des moralischen Schadens insgesamt, sofern die anderen Werte gleich bleiben. Über diese logische Beziehung hinaus scheinen uns die berücksichtigten Parameter mit der Idee übereinzustimmen, dass die Schwere des moralischen Schadens mit der Schwere der Bestrafung zusammenhängen muss. Ansonsten wäre es schwierig einzusehen, was objektiv die Idee einer angemessenen Strafe rechtfertigen würde. Nun stimmen die Kriterien, für die wir uns entschieden haben, zu einem grossen Teil mit den Kriterien überein, die zur Beurteilung der Angemessenheit einer Strafe herangezogen werden; auch letztere legen zur Einschätzung der Schwere eines Vergehens die Verwendung von Parametern nahe, welche sich auf die Menge betroffener Personen sowie den Grad und die Dauer der Betroffenheit beziehen. Auch wenn es durchaus möglich ist, andere Parameter zur Beurteilung der Schwere einer moralischen Schädigung anzuwenden, entsprechen die Kriterien, für die wir uns entschieden haben, doch der bewährten Bewertungspraxis in unserem Themenbereich.9
2.2.4 Reaktivität angesichts der moralischen Schadens
Um die Reaktivität der Unternehmen – also ihre Tendenz, den durch sie verursachten moralischen Schaden zu beseitigen oder wiedergutzumachen – zu beschreiben, kategorisieren wir die Vergehen und Vernachlässigungen entsprechend den folgenden Parametern:
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Das Unternehmen ist sich der Tatsache bewusst, dass ein moralischer Schaden verursacht wurde: ja / nein
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Das Unternehmen anerkennt seine Verantwortung für den moralischen Schaden: ja / nein
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Das Unternehmen hat effektive Massnahmen zur Beseitigung oder Wiedergutmachung des moralischen Schadens getroffen, sowie effektive Massnahmen, die einen ähnlichen Schaden in der Zukunft verhindern sollen, entsprechend einer Skala von 0 bis 3. Dabei bedeutet „0“ das Fehlen von Massnahmen, „1“ deutet auf unzureichende Massnahmen zur Beseitigung oder Wiedergutmachung des moralischen Schadens hin, „2“ auf zureichende Massnahmen hierfür und „3“ auf zureichende Massnahmen sowie solche, die einen ähnlichen Schaden in der Zukunft verhindern sollen.
Der Unterschied zwischen dem Begriff der Reaktivität, den wir hier umreissen und dem Begriff der Schwere, den wir unter Punkt 2.2.3 charakterisiert haben, besteht darin, dass hier der letzte Parameter abhängig vom vorhergehenden ist, der wiederum von dem ihm vorhergehenden abhängt. Wir behandeln also diese Parameter weniger als ebensoviele Dimensionen der Bewertung, sondern vielmehr als eine einzige Dimension – wiederum unter der Annahme, dass diese Parameter linear sind (d.h., bei gleichbleibendem Wert der anderen erhöht der Wertzuwachs eines der Parameter die Reaktivität als ganze). Beispielsweise ist die Reaktivität eines Unternehmens, das sich durch die Antwortsequenz „nein, nein, 0“ auszeichnet, weniger ausgeprägt als dasjenige eines Unternehmens, das sich durch die Antwortsequenz „nein, ja, 0“ auszeichnet, etc.10
2.2.5 Graphische Darstellung
Die Schwere des von den Unternehmen verursachten moralischen Schadens und deren Reaktivität angesichts dieses Schadens werden auf zweierlei Art graphisch dargestellt. Zwei Graphiken stellen die Schwere jeweils in Bezug auf den wiederholten oder andauernden Charakter des Vergehens oder der Vernachlässigung (im Folgenden „Dauer“), respektive in Bezug auf den Grad der Fundamentalität der Interessen der Opfer dar:
Zu dieser Darstellungsart gesellen sich zwei andere Graphiken, von denen die eine die durchschnittliche Reaktivität der Unternehmen und die andere die durchschnittliche Schwere der Vergehen und Vernachlässigungen darstellt.
Zusammengenommen vermögen die Graphiken 1 bis 3 eine Annäherung an die Art und die relative Entwicklung der Schwere des moralischen Schadens und der Reaktivität der Unternehmen darauf zu geben. Verbunden mit der Unterscheidung zwischen Vergehen und Vernachlässigung kann so eine nachvollziehbare Annäherung an den moralischen Charakter des Verhaltens der Unternehmen versucht werden.
3. Limiten des Modells
Selbstverständlich hat unsere Methodologie verschiedene Konsequenzen, auf die wir hinweisen müssen, um zu gewährleisten, dass unsere Leser die richtigen Schlüsse aus unserem Modell ziehen.
3.1 Kleine und mittlere Unternehmen
Weil wir unsere Datenbank aufgrund von faktischen Informationen aus der Presse und aus traditionellen Medien zusammenstellen, übergehen wir notgedrungen die Vergehen und Vernachlässigungen von kleinen und mittleren Unternehmen, die aber womöglich von ähnlicher Tragweite wie die hier untersuchten sein könnten.
Uns scheint, dass diese Auslassung kein Problem für das Modell darstellt.Einerseits besteht ein Zusammenhang zwischen der Aufmerksamkeit, die einem grossen Unternehmen zukommt, sowie seinem Umsatz und der Anzahl der kleinen Unternehmen, mit denen es zusammenarbeitet. Das Hervorheben von moralisch verurteilungswürdigem Verhalten von Grossunternehmen erlaubt es denjenigen Firmen, mit denen diese zusammenarbeiten, ihre eigene Reputation zu schützen, indem sie ihre Zusammenarbeit mit den betreffenden Unternehmen anpassen. Dies kann im Übrigen mittel- und langfristig auch positive wirtschaftliche Auswirkungen haben. Andererseits gilt unabhängig von der Grösse, dass Firmen, die mit Unternehmen mit schlechter moralischer Reputation zusammenarbeiten, oft selber für ethische Vergehen und Vernachlässigungen verantwortlich sind (wobei diese nicht zwingend in Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Kooperation stehen müssen). Die Immoralität eines Unternehmens auszuweisen erlaubt es dann oft, auch auf die Immoralität seiner Geschäftspartner hinzuweisen.
3.2 Indirekte Vergehen und Vernachlässigungen
Der hier verwendete Begriff moralischer Verantwortlichkeit setzt ein gewisses Verständnis von Verantwortlichkeit überhaupt voraus – verstanden als Beziehung zwischen Handelndem und Handlung. Unsere Einteilung der Fälle in Vernachlässigungen und Vergehen hat jeweils zur Voraussetzung, dass der Handelnde so hätte handeln können und sollen, dass eine moralisch problematische Situation verhindert würde. Die Fälle, die wir interpretiert und bewertet haben, betrafen meistens Vernachlässigungen mit verheerenden Auswirkungen auf die Umwelt und Vergehen mit verheerenden Konsequenzen für die Rechte der Angestellten als Arbeitnehmer (Arbeitnehmerrechte) und als Menschen (fundamentale Menschenrechte). In diesen Fällen war der Zusammenhang zwischen einer Entscheidung seitens des Unternehmens und einer Handlung oder einer Unterlassung des Unternehmens relativ leicht aufzudecken, da die Unternehmen im Allgemeinen die Ausführung ihrer Absichten nicht an andere delegieren und nur ihre eigenen Ressourcen zu deren Realisierung gebrauchen.
Es ist hingegen offensichtlich, dass dieses Paradigma Probleme damit hat, die moralisch relevanten Konsequenzen einer Handlung genau zu identifizieren, wenn die Durchführung eines Beschlusses delegiert wurde oder wenn das Unternehmen von Ressourcen anderer Unternehmen abhängt. Der zweite Fall ist besonders komplex: Inwiefern ist eine Bank moralisch verantwortlich dafür, wie das von ihr geliehene Geld gebraucht wird? In welcher Hinsicht kann ein Unternehmen moralisch für den Kauf von Gütern von einem moralisch verurteilungswürdigen Unternehmen belangt werden?
Die Fälle, welche die Finanzinstitute betreffen, müssen aufgrund der Komplexität der sich in diesem Zusammenhang stellenden Fragen und bis zu weiteren Entwicklungen von Ethometrics mit besonderer Umsicht betrachtet werden.
3.3 Transparenz
Von den Vergehen und Vernachlässigungen, die wir untersucht haben, hätten viele verhindert werden können, wenn die Unternehmen mehr Transparenz gegenüber ihren Aktionären, Angestellten und Partnern an den Tag gelegt hätten. Allerdings gehörte in der Mehrzahl der untersuchten Fälle die relevante Art von Transparenz zu den treuhänderischen Pflichten, die wir für unsere Bewertung nicht berücksichtigen. Folglich verfügen wir im Moment nicht über die Mittel, das Fehlen von Transparenz seitens der Unternehmen zu bewerten. Diese Lücke können wir glücklicherweise dadurch minimieren, dass wir die Reaktivität der Unternehmen dem moralischen Schaden gegenüber bewerten, für die sie den Anschuldigungen gemäss verantwortlich sind.
3.4 Moralisch gutes Handeln unabhängig von moralischen Verstössen
Schliesslich ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass die Entscheidung, uns auf Vergehen und Vernachlässigungen zu konzentrieren, uns den guten Handlungen gegenüber blind macht, die unabhängig von diesen Vergehen und Vernachlässigungen begangen werden. Tatsächlich lassen sich die Vergehen und Vernachlässigungen nur mittels eines normativen Begriffs von Verstoss begreifen; nun ist aber eine gute Handlung nicht nur im Zusammenhang mit Normen zu denken, sondern auch (oder eher noch) im Zusammenhang mit Werten, welche durch die Handlung verwirklicht werden und mit Tugenden, welche die betreffenden Werte zum Vorschein bringen.
Unsere Entscheidung beruht auf zwei Ideen. Die eine wurde schon in Abschnitt 1.1 angesprochen und ergibt sich schlicht aus unserer ethischen Position: Wir denken, dass Normen sich aus einer negativen konsequentialistischen Auffassung moralischer Verpflichtungen in dem Sinne herleiten lassen, dass die Verpflichtung besteht, diejenigen Folgen zu minimieren, die den grundlegenden Interessen anderer schaden. Die andere Idee ergibt sich aus der Auffassung, dass unsere Untersuchung dazu beitragen soll, dass – gegeben die Tragweite der ethischen Verstösse – der Rückstand des Gesetzes gegenüber der Ethik verkleinert wird. Um die Anwendung unserer Schlüsse zu erleichtern, haben wir es vorgezogen, eine Konzeption zu verwenden, das sich einfach in die Sprache des Rechts übersetzen lässt, was etwa für den Begriff der Verpflichtung gilt, der in demjenigen einer moralischen Norm impliziert ist. Unter diesem Aspekt stellt diese theoretische Vereinfachung einen praktischen Vorteil für unsere Untersuchung dar.
4. Praktische Anwendung
4.1 Unsere Datenbank bearbeiten
Der vorhergehende Teil gemahnt uns zu einem vorsichtigen Umgang mit der im Teil 2 behandelten Datenbank. Wir haben deshalb Ethometrics mit Funktionen ausgestattet, die es allen Einzelpersonen, NGOs und Unternehmen erlauben, Ergänzungen und Veränderungen vorzuschlagen oder gar bestimmte von uns präsentierte Daten in Frage zu stellen und anzuzweifeln. Mittels eines einfachen Onlineformulars kann jede Person den Verantwortlichen von Ethometrics schnell und simpel Änderungen vorschlagen. Die Vorschläge werden sodann folgendermassen behandelt:
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Die Quellen, welche den Vorschlägen zu Grunde liegen, werden von unabhängigen Experten untersucht. Wenn die Quellen vertrauenswürdig erscheinen und wenn die Informationen komplett sind, wird eine positive Voranzeige gemacht. Im umgekehrten Fall kontaktieren die Verantwortlichen den Verfasser des Vorschlags, um nähere Einzelheiten in Erfahrung zu bringen.
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Ausgehend von einer positiven Voranzeige schätzen die Verantwortlichen ab, inwieweit der Vorschlag Informationen bezüglich eines Unternehmens oder eines ihm vorgeworfenen ethischen Verstosses ergänzt, korrigiert oder nichtig macht. Im Lichte dieser Einschätzung wird eine Untersuchung veranlasst, die allfällige Fehler oder Unterlassungen im Prozess des Bewertens, Auslegens oder Zusammentragens der faktischen Informationen identifizieren soll.
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Wenn solche Fehler festgestellt worden sind, wird die Datenbasis entsprechend dem Vorschlag angepasst und der Fehler sowie der Zustand der bisherigen einschlägigen Daten archiviert (das Archiv ist frei zugänglich). Im umgekehrten Fall kontaktiert der Vorstand den Verfasser/die Verfasserin des Vorschlags um Näheres über dessen Begründung zu erfahren. Der Vorgang beginnt wieder bei Punkt (1) und läuft unter der Bedingung weiter, dass der Verfasser des Vorschlags zur Mitarbeit bereit ist.
4.2 Unsere Datenbank verwenden
Wie wir gesehen haben, besteht das Ziel von Ethometrics nicht darin, diejenigen Unternehmen, denen ethische und rechtliche Verstösse vorgehalten werden, an den Pranger zu stellen. Unter der Voraussetzung, dass die von uns erfassten Vorhaltungen fundiert sind, gehen wir vielmehr davon aus, dass unsere Datenbank zur Verbesserung des moralischen Geflechts in der Schweiz beitragen kann, indem sie grössere Transparenz der Handlungen der bretreffenden Unternehmen schafft. Von dieser Annahme ausgehend variieren unsere Anregungen mit der Art von Beziehung, in der die Benutzer zu den betroffenen Unternehmen stehen.
Im Allgemeinen denken wir, dass der Bezug zwischen der Zahl und der Schwere der ethischen und rechtlichen Verstösse, einerseits, und dem relativ tiefen Grad an Reaktivität gegenüber den von uns behandelten Verstössen, andererseits, in klarer Weise die Unzulänglichkeit des Selbstregulierungs-Paradigmas aufzeigt, mit dem eine bestimmte Auffassung von „unternehmerischer sozialer Verantwortung“ (CSR) verbunden ist. Diese Auffassung ist durch zwei Annahmen bestimmt:
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Die moralische Verantwortung von Unternehmen ist zumindest teilweise durch ihre normativen Entscheidungen bestimmt.
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Unternehmen haben keine anderen als ihre treuhänderischen Verpflichtungen.
Dass gewisse Unternehmen die erste Annahme hochhalten, lässt sich unschwer feststellen, wenn man die Rhetorik zur Kenntnis nimmt, mit der sie versuchen ihre Kunden und Partner zufriedenzustellen, indem sie ausführlich auf die Verhaltenskodizes verweisen, die sie sich selber geben. Die Prominenz der zweiten Annahme zeigt sich im Schweizerischen Zivilgesetzbuch, unter Art. 171 des Obligationenrechts.11
Unsere einzige Empfehlung lässt sich also folgendermassen formulieren: Es gilt sich gegen die Vorherrschaft dieser Annahmen einzusetzen und die politische Sphäre von den Unwahrheiten und vom Schaden zu überzeugen, die sie verursacht haben. Umgekehrt muss ein Rechtsapparat geschaffen werden, der gewährleistet, dass diejenigen Unternehmen zur Rechenschaft gezogen werden, deren Handlungen (oder Unterlassungen) den moralisch relevanten Interessen aller Individuen schaden.
1Vgl. http://plato.stanford.edu/entries/ethics-business
2Vorausgesetzt natürlich, dass die vom Angestellten vollzogene Handlung mit den unmittelbaren Zielen des Unternehmens übereinstimmt und der Funktion des Angestellten gemäss ist.
3Vgl. beispielsweise die Einführung und die Bibliographie in: Alain Anquetil (2008): Qu’est-ce que l'éthique des affaires?, coll. «Chemins philosophiques», Paris: Vrin.
4Entsprechend einer solchen Auffassung von «moralisch relevanten Interessen » müssen diese Interessen nicht immer mit Rechten verbunden sein.
5Was nicht heisst, dass kein Unterschied bestehe zwischen der moralischen Verantwortung von Unternehmen und derjenigen von Individuen. Aber das berührt eine andere Frage.
6Für ein Beispiel von Arten von Interessen, die wir gemäss der weiter oben genannten Definition als moralisch relevant erachtet haben, vgl. Seite 4 des Dokuments unter dem Link http://www.iso.org/iso/discovering_iso_26000.pdf
7Wir haben uns für die folgenden Skalen entschieden, da sie am besten den Kompromiss zwischen Willkür, Exaktheit und Anwendbarkeit zu bieten scheinen. Sie werden nach und nach verfeinert werden, wenn unsere Stichprobenmenge sich vergrössert, um dem Leser ein genaueres Bild des Verhaltens der Unternehmen zeichnen zu können.
8Die Grundidee hier besteht darin, die sogenannt „fundamentalen“ Rechte (Recht auf Leben, auf Freiheit, auf Sicherheit, beschrieben im Wesentlichen in den Artikeln 3 bis 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte) von anderen Rechten zu unterscheiden. Diese Unterscheidung entspringt unserer Definition moralisch relevanter Interessen (vgl. Abschnitt 2.1) als für das dauerhafte Wohlergehen des Einzelnen bedeutsam.
9Wir hätten zur Bestimmung des moralischen Gewichts weiter gehen können bezüglich der Einschränkungen für die Beziehung zwischen den Folgen einer Handlung und der Verletzung der Interessen. Aber dann hätten wir riskiert, ein willkürliches Element einzuführen, das nicht mit unserem Bestreben vereinbar ist, den moralischen Intuitionen gerecht zu werden, die unserer Einschätzung der ethischen Vergehen und Vernachlässigungen von Unternehmen unterliegen. Wir behalten diese Möglichkeit im Hinterkopf für künftige Verbesserungen von Ethometrics. Solche Verbesserungen könnten unsere moralischen Intuitionen dadurch testen, dass sie zum Beispiel festlegen, dass der Beitrag des Parameters „Anzahl Individuen“ in nicht-linearer Weise zunimmt sobald der Parameter „Dauer“ eine bestimmte Schwelle erreicht, etc.
10Weshalb ist das so? Weil wir denken, dass ein Unternehmen so handeln kann, als ob es einen moralischen Schaden anerkannt habe, ohne dies aber explizit zu machen, sobald es sich dessen Existenz bewusst ist. In diesem Fall kann es beispielsweise die Beseitigung oder Wiedergutmachung des moralischen Übels beabsichtigen, was seine Reaktivität im Vergleich zu einem anderen Unternehmen steigert, das sich schlichtweg nicht des moralischen Schadens bewusst ist, den es verursacht hat.
11 Die Mitglieder des Verwaltungsrates sowie Dritte, die mit der Geschäftsführung befasst sind, müssen ihre Aufgaben mit aller Sorgfalt erfüllen und die Interessen der Gesellschaft in guten Treuen wahren. (Abs. 1) Sie haben die Aktionäre unter gleichen Voraussetzungen gleich zu behandeln. (Abs. 2)